Den lieben langen Tag begegne ich anderen. Und wenn ich allein zuhause bin, mir selber in verschiedensten Arten und Weisen.

Hier geht es aber um die Begegnung mit dem Du.

Zwei Menschen treffen aufeinander. Ich und du. Zwei Welten. Jede Welt mit einer eigenen Prägung, Vernetzung, und somit auch einer eigenen Sichtweise. Diese Erkenntnis und die Schlussfolgerungen daraus sind mir inzwischen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich darüber staune, wie sich zwei Menschen in Streitereien verwickeln können über Dinge, die auf verschiedenen Sichtweisen beruhen. Sie sehen das nicht und jeder möchte den anderen von der eigenen Sichtweise oder Meinung überzeugen. Dieser Wunsch ist so nachvollziehbar; wenn jemand der gleichen Meinung ist oder die gleiche Sichtweise hat, dann bin ich nicht mehr allein. Und wir fühlen uns soooo ungern allein. Schon gar nicht in einer Liebesbeziehung. Zugehörigkeit ist neben Hunger, Durst, Wärme und Sicherheit eines der Grundbedürfnisse des Menschen. Wenn also diese Zugehörigkeit zum Liebsten oder der Liebsten gefährdet scheint (oft nicht wirklich ist, aber auf Grund der Geschichte scheint sie es zu sein), fängt der Kampf um Anerkennung der eigenen Sichtweise an. Oft ist dieser Kampf ein Ringen um die Heilung einer alten Wunde. Angenommen, ich bin von meinem Vater nur als funktionierender Mensch richtig wahrgenommen und bestärkt worden, dann ringt es in mir danach auch dann geliebt zu werden, wenn ich nicht funktioniere, sprich müde, launisch, traurig, wütend, krank… bin. Wenn mein Partner das dann nicht kann, werde ich – meist nicht bewusst, sondern wie ‚ferngesteuert‘ – in Auseinandersetzungen oder Inszenierung von Situationen versuchen, diese Verletzung zu heilen. Heilen heisst für mich in diesem Fall, jemanden dazu zu bewegen, sich so zu verhalten, wie ich das ursprünglich gebraucht hätte. Wenn das Gegenüber in dem Bereich gerne gibt, ist alles gut. Da dieses Bedürfnis nach Heilung aber manchmal förmlich schreit, fühlt sich das Gegenüber nicht wirklich inspiriert zu geben, was verlangt wird. Und bumm; die Verletzung wiederholt sich, sie verstärkt sich mit jedem fehlgeschlagenen Versuch damit anzukommen, ein bisschen mehr.

Ich rede aus eigener Erfahrung. Vielen meiner Verhaltensweisen, die ‚bitteeee mach‘s doch anders als meine Eltern‘ geschrien haben, bin ich schon begegnet. Auch in Situationen, die ich begleite, begegne ich solchen ‚Übertragungen‘ noch und noch. Es ist auch einfacher, den anderen zu kritisieren, ihm zu sagen, es genüge nicht, als die eigene Wunde zu spüren. Meist hat sie sich auch gut versteckt, muss ich zu unserer Verteidigung sagen. Die Verletzungen und noch offenen, zum Teil eiternden Wunden, sind abgeschirmt von Verdrängungs- und Schutzmechanismen. Bodyguards gleich stehen sie vor den inneren Räumen mit schwierigen Erinnerungen drin. Und wehe, jemand kommt uns zu schnell zu nahe. Dann rüsten diese Bodyguards auf und rasseln mit ihrem Ketten. Das kann sehr verletzende Dialoge bis hin zur Anwendung von Gewalt zur Folge haben.

In Beziehungen werden solche Inhalte geweckt. Je näher uns jemand steht, desto eher geschieht es. Denn die schwierigsten Verletzungen wurden uns meist von nahestehenden Menschen zugefügt.

Mit dem Wissen um diese Umstände können wir vielleicht ein bisschen anders an Konflikte herangehen. Selbstwahrnehmung, Ehrlichkeit sich selbst und dem anderen gegenüber, Mut zur Wahrheit, und Achtsamkeit sind Haltungen und Werkzeuge, die beim Lösen von solchen Verwicklungen und Verwechslungen helfen.

Wenn die Liebe und Freundschaft in einer Beziehung gross genug sind und von beiden hoch gehalten werden, dann gibt es nach einem Zusammenstoss genau das Heilungspotenzial, das wir suchen. Dann geschieht das kleine Wunder, das wir uns alle tief im Herzen wünschen. Wir werden angenommen, wie wir sind. Zuerst von uns selber, aber dann auch vom Gegenüber.

Der Wunsch harmonisch und konfliktfrei in Beziehung zu sein, ist in uns allen da. Leider ist er unrealistisch. Wenn man der Beziehung erlaubt zu leben, werden die Konflikte kommen. Den Unterschied macht dann die Art und Weise aus, wie mit ihnen umgegangen wird. Zusätzliches Wegweisen von Auseinandersetzung gibt eine Schicht Schwieriges oben drauf. Das Wegweisen braucht auf Dauer viel Kraft und funktioniert nur auf Kosten der Lebendigkeit.

Mein Plädoyer also; hinsehen und hinfühlen, was vor sich geht. Zuerst in mir, dann beim anderen. Dies nicht in Annahmen, sondern mit möglichst neutraler Neugier auf die Realität des Gegenübers und im Austausch miteinander. Ohne Anklage, Beurteilung oder Suche nach dem oder der Schuldigen. Nicht einfach. Ich weiss es aus eigener Erfahrung. Und genau das kann eine Beziehung vertiefen und einen selber unglaublich bereichern. Und das gehört für mich wesentlich zur Liebe; zusammen einen Weg finden in schwierigen Momenten.

Ich wünsche dir Neugier, Achtsamkeit und liebevolles Sein mit dir und dem Du!